VOM AVANTGARDISTISCHEN REBELLEN ZUM PUBLIKUMSLIEBLING
Die kleine Welt der großen Gefühle hat in der Hansestadt an der Peene tiefe Wurzeln. Schon im 17. und 18. Jahrhundert haben Zahn- und Wundärzte auf dem Marktplatz ihr Können in spektakulären Darbietungen zum Besten gegeben. Auch reisende Schauspieltruppen traten in Gasthäusern der vorpommerschen Stadt auf.
In den 1920er Jahren fanden Aufführungen häufig im Alten Schützenhaus statt, so dass der Kreistag 1948 beschloss, es zu kaufen und zu einem ordentlichen Theater umzubauen. Schon ein Jahr später konnte es eröffnet werden.
In den 1980er Jahren galt Anklam in der Theaterszene als absolute Strafkolonie. Hierhin wurde versetzt, wer der DDR unbequem war. Das »Ausreisetheater« wurde es genannt. Denn viele der verbannten Ensemblemitglieder hatten einen solchen bereits gestellt. Hier kam zusammen, wer sich den Vorstellungen vom sozialistischen Theater nicht anpassen wollte. Allen voran der Oberspielleiter Frank Castorf. Seine Inszenierungen waren so avantgardistisch, dass zu den Premieren die Ostberliner Kunstszene anreiste.
Dem heimischen Publikum gefielen die sperrigen Stücke dagegen weniger und noch weniger den SED-Kulturfunktionären, die nun auf die Spielpläne einwirkten. Zudem wechselten sie den Intendanten Wolfgang Bonness gegen einen neuen, Dr. Wolfgang Bordel, aus. Der promovierte Philosoph wollte wieder für die Anklamer, statt für die Berliner inszenieren. Was ihm gelang.
Nach der Wende wurde Dr. Bordel sogar zum Retter des kleinen Theaters. 35 Jahre lang lenkte er die Geschicke des Stadttheaters und der 1993 gegründeten Vorpommerschen Landesbühne, die es ohne ihn nicht gäbe. Nach seinem altersbedingten Rücktritt im Jahr 2019 übernahm Martin Schneider, zuvor langjähriger Leiter der Barther Boddenbühne, die Intendanz der Landesbühne. Seit 2022 leiten Anna Engel (Geschäftsführende Dramaturgin) und Andreas Flick (Kaufmännischer Geschäftsführer) die Landesbühne als Team.
EIN VEREIN WIRD ZUM LEBENSRETTER – DIE VORPOMMERSCHE KULTURFABRIK UND IHR HÄNDCHEN FÜR GROSSES THEATER
Wahrscheinlich gäbe es das Anklamer Theater und somit auch die Vorpommersche Landesbühne heute nicht mehr, wenn es nicht Menschen gäbe, die mit ihrem ganzen Herzen das Theater lieben. Als der Verein Vorpommersche Kulturfabrik 1992 gegründet wurde, glaubten viele, allen voran die Politik, die Zeit der Theater sei vorbei.
Überall wurden Theater dicht gemacht. Auch Anklam stand kurz vor dem Aus. Denn die Wen- de hatte neue Rahmenbedingungen für Schauspielhäuser geschaffen und nach denen war die Wirtschaftlichkeit eines eigenständigen Theaters in einer so kleinen Stadt wie Anklam illusorisch. Doch in eben jenem vorpommerschen Städtchen regte sich Widerstand. Hier gab es den Theaterintendanten Dr. Wolfgang Bordel, ein leidenschaftliches Theaterkollektiv und eine Handvoll Kulturliebhaber, die sich dem Theatersterben nicht einfach ergeben wollten. Der frisch gegründete Verein Vorpommersche Kulturfabrik stellte sich der Aufgabe, in der Region ein breitgefächertes Kulturleben mit Theatervorstellungen und anderen breitenwirksamen Veranstaltungen zu erhalten.
Der Verein übernahm die Trägerschaft des Theater Anklam und wandelte es zu Vorpommerschen Landesbühne. Statt auf das Publikum zu warten, beschlossen die Theatermacher dorthin zu gehen, wo das Publikum war: Auf die Insel Usedom. Und für ihn waren das die Urlauber auf der Insel Usedom. Indem die Ensemblemitglieder und die Mitarbeiter:innen bei ihrem Ausscheiden aus dem alten, kommunal getragenen Theater und ihrer Aufnahme in die Landesbühne der Kulturfabrik auf ihre Abfindungen verzichteten, konnte der Verein ein Theaterzelt in Auftrag geben und es in Heringsdorf an exponierter Lage, direkt an der Promenade, aufbauen. Der Erfolg gab den Theatermachern recht. Über die Jahre kamen weitere Kultur- und Theaterprojekte sowie Spielstätten in Zinnowitz, Usedom, Wolgast und Barth hinzu.
DIE BRETTER, DIE DIE WELT BEDEUTEN, SIND IMMER EIN GANZ BESONDERER ORT. IN HERINGSDORF AUF USEDOM WERDEN JENE BRETTER VON EINEM GEWALTIGEN ROTEN HUT ÜBERSPANNT, DEM CHAPEAU ROUGE.
Seit 1993 der gerade frische gegründete Verein Vorpommersche Kulturfabrik das Anklamer Theater in freier Trägerschaft übernahm, wurde über neue Möglichkeiten, Theater zu spielen, nachgedacht. Die Idee: Ein extra für Theaterproduktionen konzipiertes und produziertes Zelt gleich hinter der Ostseedüne in Heringsdorf aufzubauen und für die dortigen Urlauber Sommertheater anzubieten. Ein gewagtes Experiment. Doch schon die erste Saison war ein Erfolg. Heute ist das CHAPEAU ROUGE Kult.
Der außergewöhnliche Ort mit seinem Sternenhimmel und den kleinen Cocktailtischen schafft eine gemütliche Atmosphäre und gibt Theaterlegenden Raum zum Entfalten. Fast täglich spielt in den Sommermonaten hier die Musik oder es wird jede Menge Theater gemacht. Auch berüchtigtes Kabarett aus großen Städten und Lesungen bekannter Literaten finden hier statt. Fast jeder Held der großen und kleinen Worte hat dem roten Hut bereits einen Besuch abgestattet – von Dornröschen und Rumpelstilzchen bis hin zu Hamlet, Marlene Dietrich oder Cyrano de Bergerac. In diesem Sommer steckt Pinocchio auf der kleinen Bühne seine Nase in alles, was ihm verboten wurde, und König George VI. von England gibt dem CHAPEAU ROUGE mit seiner berühmten King‘s Speech die Ehre.
DIE SAGENUMWOBENE STADT VINETA IST DAS ATLANTIS DER OSTSEE. UND JEDEM USEDOMER IST KLAR, DASS SIE IN GRAUER VORZEIT DIREKT VOR DER INSEL IN DEN OSTSEEFLUTEN VERSANK.
Auch für den langjährigen Intendanten der Vor- pommerschen Landesbühne, Dr. Wolfgang Bordel, stand das zweifelsfrei fest. Die Sage um die goldene Stadt faszinierte ihn so sehr, dass er nicht müde wurde, sich immer neue Geschichten um das Warum ihres Unterganges auszudenken und sie in fantasievollen Stücken auf die Bühne zu bringen.
Auf die Idee, dass Vineta ein Publikumsmagnet werden könnte, brachte ihn eine knapp 20-minütige Laser-Show auf dem Heringsdorfer Sportplatz am Ende der Sommersaison 1995, während der die Sage um Vineta vorgelesen wurde. Es waren so viele Menschen gekommen, dass der Sportplatz aus allen Nähten platzte. Das hat Potential, dachten sich die Theatermacher:innen und ließen nichts unversucht, aus der Vision ein echtes Theaterspektakel unter freiem Himmel zu machen.
Mit der Ostseebühne am Zinnowitzer Waldrand wurde 1996 eine Bühne gefunden. Sie wurde umgebaut und so konnte im Sommer 1997 die erste Aufführung der Vineta-Festspiele, »Die versunkene Stadt«, Premiere feiern. Fortan inszenierte Wolfgang Bordel bis kurz vor seinem Tod 2022 jedes Jahr eine neue Vineta-Geschichte – meist in Form einer Trilogie und immer mit Impulsen aus dem aktuellen Zeitgeschehen. »Die Sage gibt viel Spielraum für Ausdeutungen«, sagte Bordel einmal. Und die trieben in vielen seiner Geschichten teils märchenhaft bunte Blüten.
Über die Jahre standen mehr als 1100 Akteure während der Festspiele auf der Bühne. Seit der Gründung der Theaterakademie im Oktober 2000 gehören die Schauspielelevinnen und -eleven zum Vineta-Ensemble. Seit 2022 verantworten Anna Engel und Andreas Flick die Inszenierungen der Vineta-Festspiele. In diesem Jahr schließen sie ihre erste Trilogie ab. Auch nach dem Tod des Festspielschöpfers Dr. Bordel bleibt die Tradition des fantasievollen Sommertheater- Spektakels dem Seebad erhalten.